Donnerstag, 28. Juli 2016

Indie-Autoren-Challenge Kathrin Lichters

Im März 2015 hatten einige Autoren die Idee sich einer besonderen Herausforderung zu stellen. Ihnen sollten 15 Begriffe genannt werden und sie wollten eine Geschichte daraus machen, die mindestens drei Seiten lang sein sollte. Nach und nach möchte ich die Autoren und deren Geschichten vorstellen:



Kathrin Lichters wurde 1986 in einer Kleinstadt im Rheinland geboren und wuchs dort in einer großen, chaotischen und etwas verrückten Patchworkfamilie auf. Schon als sie ein kleines Mädchen war, versorgte ihre unkonventionelle Uroma sie mit etlichem Lesestoff und erfand mit ihr lustige Geschichten. Ihre große Liebe ist, wie es der Zufall so will, auch ihr bester Freund, mit dem sie eine kleine Familie gegründet hat. Neben ihrem kleinen Sohn, der sich ausschließlich Geschichten von seinem Vater vorlesen lassen will, gehören noch zwei Katzen, ein Hund und hoffentlich bald eine Schildkröte mit dem Namen Pebbles zu ihrer Familie.
Ihr Debütroman Sandkasten-Groupie und die Fortsetzung erschien im Februar 2015 neu und wie aus dem Ei gepellt unter 'Backstage-Love Unendlich nah' im Feelings Programm vom Droemer Knaur Verlag. Die Fortsetzung der Reihe wird im März 2015 unter dem Namen 'Backstage-Love Für immer vertraut' erscheinen. Im September folgt der dritte Band 'Backstage-Love Kopfüber verliebt'. Alle Teile der Dark Ages Trilogie sind bereits in Eigenregie erschienen. Im August 2016 erscheint der erste Teil der 'Carhill-Sisters'-Liebesromanreihe bei Feelings vom Droemer Knaur Verlag.


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Kathrin Lichters wurde von Nicole König nominiert.


Fliege
Hannover
Engagement
Bleistiftspitzer
Entenpärchen
Heliumballon
Haargummi
Cappuccino
Raststätte
Ausflugsschiff
Leihhandtücher
Cocktailkarte
Käsekuchen
Enthusiasmus
Müde


Das Geschenk
Leyla brach von der Raststätte auf und fuhr die gewohnte Ausfahrt ab, die sie schnellstmöglich zu dem Ort brachte, wo sie erwartet wurde. Als sie in das schäbigste Viertel ganz Hannovers fuhr, nahm die Bestürzung zu. Mit jedem Kilometer, dem sie ihrem Ziel näher kam wurde ihr Herz schwerer. Es war als pumpe es kein Blut sondern Blei durch ihre Adern. Sie sah die verschmierten Hauswände, den Müll, der auf offener Straße entsorgt worden war und die herumlungernden Typen, die sich gegenseitig etwas zusteckten. Leylas Enthusiasmus sank auf den Nullpunkt. Sie hielt vor einem heruntergekommenen Mehrfamilienhaus, aus dem laute Rapmusik zu ihr hallte. Auf den unleserlichen Klingelschildern suchte sie nach dem richtigen Namen. Doch da öffnete die Tür sich bereits. Im Hausflur roch es nach Urin, vermischt mit schalem Bier. In der ersten Etage lag ein Mann, dessen Zustand für Leyla nicht ganz klar war. Sie wollte schon nach seinem Puls fühlen, als sie eine rauchige Stimme anherrschte: „Lass den liegen. Das ist Berti. Der schläft manchmal hier.“
„Im Hausflur?“, echote Leyla und sah in das Gesicht einer mitgenommenen Frau höheren Alters. Sie sah genauso aus, wie sie sie in Erinnerung hatte.
 „Besser als unter der Brücke oder etwa nicht?“ Sie ließ die Tür einen Spaltbreit auf und ging, ohne etwas zu sagen in die Wohnung hinein. Leyla folgte ihr mit klopfendem Herzen. Etliches ungespültes Geschirr stapelte sich auf der Anrichte im Flur, wo sich ein paar Fliegen um die Essensreste stritten. Leyla stieg über den Krempel, der in dem Raum verteilt worden war und verhedderte sich prompt in einer Plastiktüte.

„Ist er da drin?“, fragte Leyla, als die Frau vor einer geschlossenen Tür hielt. „Hat nichts als Ärger gemacht, der kleine Scheißer. Ich bin zu alt für sowas!“, schimpfte sie und zündete sich eine Zigarette an. Daran zweifelte Leyla nicht eine Sekunde. Die Frage war nur: War sie besser in ‚sowas?‘
Die Tür wurde aufgestoßen und Leyla sah die unzähligen PET Flaschen, die in Plastiksäcken gesammelt wurden. Es dauerte einen Augenblick, ehe sie den kleinen Jungen hinter den Bergen von Müll wahrnahm. Er saß verängstigt in der Ecke und starrte zu ihr auf. Es war fast ein halbes Jahr her, dass sie ihn gesehen hatte und Leyla überlegte, wie er wohl auf sie reagieren würde.
Mika lächelte nicht, wie sonst immer. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Leyla reichte dieser Anblick um loszuheulen. Doch sie riss sich zusammen. „He Champ“, grüßte sie ihn, bahnte sich einen Weg durch die wahllos zusammengewürfelten Dinge und ging vor ihm in die Hocke. Das strubbelige Haar stand in alle Richtungen ab und seine Augen waren gerötet. Sie gab ihm die Faust, in die er sonst immer einschlug. Heute nicht. Er sah sie an und wirkte vollkommen hilflos.

„Entschuldige, dass ich nicht eher hier sein konnte. Weißt du, warum ich da bin?“ Mika nickte, während er die Nase hochzog und sie am Pullover abwischte. „Mami ist tot!“ Leylas Hals schnürte sich zusammen und ihre Hände zitterten. „Ich habe kein zu Hause mehr!“ Genau so fühlte sie sich auch.
Jessi war ihr Anker gewesen, ihre Rettungsleine, ihr Halt, ihr Zuhause. Einer Schwester hätte sie nicht näher sein können. „Du hast mich. Ich bin dein zu Hause, wenn du das möchtest.“ Mikas Miene hellte sich auf, wenn auch nur einen winzigen Augenblick.
„Du meinst, ich muss nicht hier bleiben?“ Leyla schüttelte vehement den Kopf. „Nein. Ich möchte dich abholen.“ Plötzlich richtete Mika sich auf und deutete auf eine Tasche. „Ich habe alles gepackt. Können wir los?“ Leyla lächelte und folgte ihm aus dem Raum. Im Vorbeigehen nahm sie die Reisetasche in die Hand, während Mika seine kleine Hand in ihre andere schob. Sie sah zu ihm hinunter und fragte: „Möchtest du dich von … von deiner Großmutter verabschieden, Mika?“ Er schüttelte den Kopf und versteckte sich hinter ihr.

Sie sah der Frau ins Gesicht, die Anhand des Todes ihrer Tochter kein bedauern zeigte. Engagement für das einzige Enkelkind sah anders aus. Leyla blieben jegliche Beileidsbekundungen im Halse stecken und sie verabschiedete sich eilig. Erst als sie mit Mika im Auto saß, atmete sie hörbar aus. In diesem Moment wusste sie, dass sie das Richtige tat. Sie mochte sich noch so unzulänglich fühlen, aber alles war besser als das hier.

 „Wo fahren wir hin?“ „Ich möchte dir etwas zeigen!“ Die Sonne blinzelte hinter den weißen Wolken hervor und Leyla setzte die Sonnenbrille auf die Nase, als sie am Parkplatz des kleinen Sees ausstieg. Mika war durch die kurze Autofahrt vor Erschöpfung eingeschlafen und Leyla brach es das Herz ihn wecken zu müssen. Er musste unglaublich müde sein. Sie nahm ihn auf den Arm, damit er in Ruhe wach werden konnte und betrat mit ihm das niedliche Café am Ufer. Sie bestellte einen Cappuccino für sich und ein Stück Käsekuchen mit einem Kakao für Mika. Sie streckte alle Glieder von sich und band die langen Haare mit einem Haargummi zusammen.

Vor einem halben Jahr war sie nach einer gescheiterten Ehe und einem Haufen Schulden nach München geflüchtet. Jessi hatte ihr geholfen, die Reste ihres bekümmernswerten Lebens in Kisten zu verpacken. Sie erinnerte sich genau an das Gesicht ihrer besten Freundin, als sie mit einer Flasche Tequila und einem Käsekuchen vor der Tür ihrer alten Wohnung gestanden hatte. Es war als könne sie den Klang ihres Lachens immer noch in den Ohren hören. Leyla blinzelte die aufsteigenden Tränen fort. Jessi hatte es geschafft, dass Leyla sich nicht wie ein Versager vorkam, weil sie ihre Ehe hatte scheitern lassen und nun fluchtartig die Heimat verließ. Leyla hatte immer geahnt, dass Jessi sie insgeheim um den Neustart beneidete. Als Mutter sagte man so etwas natürlich nicht. Schließlich liebte man sein Kind. Doch in Wahrheit hatte Jessi nichts dergleichen gesagt, weil sie gewusst hatte wie unangebracht das gewesen wäre. Leyla hatte drei Jahre ihres Lebens darauf verschwendet, mit ihrem Exmann Chris ein Kind zubekommen. Sie war bei jedem Spezialisten in Deutschland gewesen und hatte sich mehrere Tausend Euro verschuldet. Schlussendlich hatte sie sogar ihren Mann an eine Bardame namens Kelly verloren, die von ihm, nach angeblich nur einer Nacht, schwanger geworden war.

Für Leyla war damals kein Platz in Hannover gewesen. Wie hätte sie auch nur das Risiko eingehen können, ihrem Ex mit einem Kinderwagen über den Weg zu laufen. Unvorstellbar. Sie blickten zu dem Ufer eines kleinen Sees, an dem sie einst ein Mädchen namens Jessi kennengelernt hatte. Sie schreckte hoch, als Mikas Kakao sich über den Tisch ergoss. Der Kellner brachte eilig ein paar Handtücher, die sie zum Trocknen des Missgeschicks brauchte. Mika sah bestürzt aus und seine Unterlippe zitterte bedenklich, während Leyla die Cocktailkarte von dem klebrigen Kakao befreite. 

„Hey Kleiner, das ist gar nicht schlimm und passiert mir auch regelmäßig. Du wirst sehen, wie viele Unglücke du mir helfen musst wegzuwischen. Da kannst du dich schon mal drauf einstellen!“ Seine Miene hellte sich auf. „Darf ich an den See gehen?“ Leyla nickte und bat: „Bitte bleibe da, wo ich dich sehen kann, ja?“ Er stimmte zu und erkundete das Ufer, während Leyla die Leihhandtücher dem Kellner zurückbrachte. Er stellte einen Korb voller altem Brot auf die Theke und deutete auf den See, auf dem ein Entenpärchen schwamm. Er sah sie lächelnd an. „Ich dachte, Ihr kleiner Sohn könnte eine Aufmunterung vertragen.“ Sie sah in die freundlichen Augen und wollte schon erwidern, dass er nicht ihr Sohn sei. Doch da hielt sie inne. Es fühlte sich zwar nicht richtig an, Jessi zu übergehen. Andererseits, wenn Mika nicht zu ihr gehörte, zu wem gehörte er dann? Sie bat um die Rechnung und sah, wie der Kellner seinen Stift kurz mit einem Bleistiftspitzer wieder schreibtauglich machte. Leyla bezahlte und bedankte sich für das alte Brot.

Das Ufer des Lachmannssees sah noch genauso aus, wie vor zwanzig Jahren und war der einzige Ort an dem Leyla sich Jessi nahe fühlte. Abgesehen vielleicht von ihrer alten Wohnung. Dort war sie jedoch vor wenigen Stunden geflohen, weil sie beim Anblick der halbvollen Teetasse und den Kuschelsocken auf dem Sofa aus dem Weinen nicht mehr heraus kam. Alles war so hergerichtet, als käme Jessi jeden Moment aus dem Bad oder vom Einkaufen zurück. Doch das würde nicht geschehen. Diese Ungerechtigkeit war nicht zu überbieten.

Leyla gab Mika das Brot und begann mit ihm die Enten zu füttern. Anschließend ließ sie sich auf einem Stein nieder und sah Mika dabei zu, wie er das Brot in den See warf. Diesen Platz hatte sie einst bei einer Fahrt mit ihrer Klasse auf einem Ausflugsschiff entdeckt und seither ihre Freizeit ausschließlich hier verbracht. An diesem Ort hatten Jessi und Leyla viele Tränen vergossen, Partys gefeiert und sich Geheimnisse anvertraut. Hier hatte Jessi ihr von der ungeplanten Schwangerschaft erzählt. Damals war sie so verzweifelt, weil sie glaubte keine gute Mutter sein zu können, weil sie ihr Kind ohne Vater aufziehen musste. Doch in Wahrheit war sie die beste Mutter aller Zeiten gewesen. Wie sollte ein kleiner Kerl von fünf Jahren den Mut haben, ohne seine Mutter aufzuwachsen? Wie, wenn sie selbst noch nicht wusste, wie sie je ohne Jessi leben könnte.

Sie holte tief Luft und nahm den Umschlag heraus, den sie in der Nachttischschublade von ihrer Freundin gefunden hatte. Auf dem Brief stand mit feinsäuberlicher Handschrift ihr Name geschrieben. Ihre Hand zitterte wieder, als sie ihn öffnete.

„Meine liebste Leyla, ich schreibe den Brief zu einem Zeitpunkt in meinem Leben, wo ich Sicherheiten möchte. Ich hoffe, du wirst ihn nie zu lesen bekommen, aber falls doch, weiß ich ganz genau, wie du dich fühlen wirst. Zwischen uns beiden gab es immer dieses besondere Band und ich bin sicher, solltest du vor mir sterben, würde ich das nicht überleben. Ganz ehrlich, du warst immer die Stärkere von uns beiden. Ich weiß, dass du jetzt vehement den Kopf schüttelst, aber glaube mir Schätzchen, du irrst dich. Du darfst mich in jeder verrückten Sekunde vermissen, dich betrinken und eine Zeitlang mit riesigen Eispackungen vor dem Fernsehen sitzen. Dann gehst du da raus und holst dir das Leben, das du verdienst, in Ordnung? Denn mein Sohn wird dich dringend brauchen. Ich habe nie mit dir darüber gesprochen, weil ich wusste, du würdest versuchen mir diese Sache auszureden. Du glaubst nicht, dass das Universum gewollt hat, dass du Mutter wirst. Aber wenn du diesen Brief jemals zu sehen bekommst, dann winkt das Schicksal mit dem Zaunpfahl, Leyla. Ich weiß, dir kommt die Verantwortung riesig vor, aber ich wüsste niemanden dem ich mein Kind mehr anvertrauen könnte, als dir. Du kennst mich, meine Überzeugungen und all die Dinge, die ich zu ihm sagen würde, falls er je Scheiße baut, oder im Begriff ist die falsche Frau zu heiraten. Du weißt dann, was zu tun ist. Du wirst die beste Ersatzmami sein, die die Welt zu bieten hat. Mika darf nicht voller Wut sein, weil er mich hergeben musste. Bring ihm bei, das Leben zu lieben. Bring ihn zum Lachen, denn sein Lachen ist so wunderschön. Lass ihn später das tun, was er liebt, nicht was ihn reich macht. Er soll, wie du, ein Freigeist sein und seinen eigenen Weg finden. Das Einzige, was ich mir für ihn wünsche, ist Glück und Liebe. Er ist meine große Liebe. Er wird dir den Weg weisen. Keine Angst ich werde immer da sein und euch über die Schultern sehen. (Haltet Ausschau nach den Zeichen.) Ihr werdet ein Geschenk füreinander sein. Liebt euch, so wie ich euch liebe!

Jessi Tränen bahnten sich den Weg über Leylas Wange und sie wischte sie eilig fort, weil Mika besorgt zu ihr rübersah. Er nahm Leylas Hand und fragte: „Weinst du wegen Mami?“ Leyla nickte und schloss ihn in die Arme.
„Glaubst du, sie ist im Himmel?“ Leyla sah hinauf zu dem blauen Himmel und entdeckte einen Heliumballon aufsteigen. Leyla lächelte und deutete auf den Ballon: „Ich würde sagen, dass ist ein Zeichen von ihr, oder? Sie hat Ballons geliebt.“ Mika lächelte und begann wild dem Ballon zu winken. „Hallo Mami, keine Angst, ich bin jetzt mit Leyla zusammen!“ Dann nahm Leyla Mikas Hand und hielt sie ganz fest, während sie die Enten fütterten.

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